Samstag, 8. Januar 2011

Der V-Effekt


Wenn ich daran zurückdenke, wie es eigentlich dazu kam, dass ich in Vorbereitung auf meine Karriere als Hartz-IV-Empfänger Student der Literaturwissenschaft geworden bin, erinnere ich mich vor allem an ein bestimmtes Lektüreerlebnis. Als ich vor einigen Jahren Brechts "Leben des Galilei" las, wurde mir wohl zum ersten Mal das Ausmaß der Bedeutung bewusst, das Literatur potentiell haben kann. Das Schaffen einer fiktiven Wirklichkeit eröffnete neue Blickwinkel auf die real existierende Wirklichkeit. Dieses Prinzip faszinierte mich, und Brecht, der dieses Prinzip umzusetzen wusste wie kaum ein Anderer, ist bis heute einer meiner Lieblingsschriftsteller geblieben.

So muss ich mit einiger Scham eingestehen, dass ich bisher Brechts musikalisches Pendant sträflich vernachlässigt habe. Tom Waits ist der Kronerbe des Brechtschen Verfremdungseffekts. Was er auf Alben wie Swordfishtrombones und Rain Dogs zustande brachte, ähnelt nicht nur im Darstellungsprinzip der Ästhetik Brechts. Die Lieder klingen, als wäre Waits' einziges Ziel beim Singen gewesen, die Seeräuber-Jenny aus Brechts "Dreigroschenoper" zu beeindrucken. Ein gequälter Pirat auf der Suche nach seiner Seelenverwandten.

Nun hat Waits allerdings nicht nur Mitte der 80er Jahre Musik gemacht. Für Bone Machine (1992) und Mule Variations (1999) wurde er jeweils mit einem Grammy ausgezeichnet und auch sein Output im 21. Jahrhundert wurde durchweg positiv aufgenommen. Mit Alice und Blood Money, die im Jahr 2002 zeitgleich veröffentlicht wurden, untermauerte Waits seinen literarischen Anspruch. Beide sind sie die Resultate einer Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur Robert Wilson, dessen Inszenierungen von "Alice" und "Woyzeck" auf den Alben musikalisch eingefangen sind.



Ein ganz anderer Tom Waits ist auf der zweiteiligen, 1991 und 1993 herausgebrachten Zusammenstellung seiner Demo-Tapes zu hören. The Early Years sind bluesiges Singer/Songerwriter Zeug, das direkt unter die Haut geht. Das Cover für Volume One (siehe oben) sagt bereits alles: rough, rugged and raw, bare to the bone outlaw music for beat poets. Von der exzentrischen, in Whiskey getränkten und von Zigarettenrauch zersetzten Intonation, die ihn später auszeichnete, ist noch nichts zu hören. Von der Genialität, die ihn als Songschreiber berühmt gemacht hat, schon.



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